Giorgio de Chirico und die Metaphysik

Der Maler Giorgio de Chirico ( 1888-1978) gilt sowohl als der Vorläufer des Surrealismus als auch der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre. Er entwickelt vor dem ersten Weltkrieg eine Bildsprache, die aus einer wiederkehrenden Motivik besteht und damit einen starken Wiedererkennungswert garantiert. Zwei Werkkomplexe lassen sich dabei unterscheiden: die Plätze und die Innenräume. Der Kunstgeschichte gilt seine neuartige Bildfindung, die pittura metafisica, geschaffen in den Jahren von 1909 bis 1919 als genial. Was er dann noch bis zu seinem Tode malte, wird in Fachkreisen diskret übergangen. Besonders wunderlich ist de Chiricos eigene künstlerische Abkehr von seinen Erfolgen. Er verabschiedet sich von seinem, durch die Surrealisten gefeierten Frühstil, unerklärlich und mit Raum für diverse Vermutungen.
Seltsamkeiten und Rätsel allenthalben… und sein Geheimnis?

Vor dem 1. Weltkrieg galt seine Bildfindung den sogenannten italienischen Plätzen, mit einer ausgeprägten Vorliebe für antike Architekturversatzstücke, ein wenig Himmel und einer sparsamen Dosis menschlicher Protagonisten. Die zuweilen auch als „Münchener Erinnerung“ bezeichnete Architektur gibt Anlass zu vielfältiger Spekulation. Seine Veduten ziehen den Betrachter in den Bann. Er verdichtet Plätze zu Bühnenbildern, die die Idee von menschenleerer Stadt verkörpern. Eine sehr exklusive Situation oder das Ende des sozialen Lebens? (Die Kuratoren zogen den Vergleich mit den ausgestorbenen Plätzen der Coronaquarantäne und beglückwünschten sich zu Aktualität dieser Bildparallele.)

Seine Straßenzüge sind stets arkadengesäumt, sonnendurchflutet, in Bewegungslosigkeit festgehalten. Kontrastreiche Schlagschatten, emporragende Türme, Wanduhren, Wasserspeier, Standbilder oder zuweilen weit entfernte Figuren bilden das Repertoire, welches er immer wieder neu kombiniert. „Facettenreichtum“ beschreibt das auffallend geschlossene Programm. Antikenbezüge verdichten sich in einer Vorliebe für die wollfadenfindige Ariadne, die de Chirico in ewigen Schlaf versetzt. Hierbei entwickelt der Maler eine Obsession für den Moment, indem die Überanhängliche, unsterblich in Theseus verliebte, den Morgen verschläft, in dem der begehrte Mann eilig davon segelt. Dabei wird das Schiff häufig mit einer Lokomotive kombiniert, die weiße Dampfwolken ausstoßend, konvulsive Bewegung suggeriert. Beide Verkehrsmittel werden diskret von einer immer wiederkehrenden Mauer abgeschirmt. Überhaupt sind Separation und Beziehungslosigkeit Hauptaspekte der kulissenartig aufgebauten Bilder, deren Stärke die Andeutung bleibt. Das naheliegende Geheimnis ist nicht zu sehen, versteckt im schwarzen Schatten der Arkaden. Bühnenartige Raumgefüge entstehen mithilfe von Rampen, die die Zentralperspektive zerknittern und machen die Szenerie theatralisch, vermitteln Unwirklichkeit. Brüche im Raumgefüge und Hinweise auf Zeitsprünge entrücken de Chiricos Stadt vom Wirklichkeitserlebnis. Der Mittelpunkt des Bildes scheint sich außerhalb dessen zu befinden. Eine andere Wirklichkeit, die „pittura metafisica“ ist geboren.

Der zweite Schaffenszyklus entsteht während der Kriegsjahre. Er dient in der Schreibstube, bis er nervenzerrüttet ins Hospital umziehen kann und befüllt in seiner Malerei Innenräume in nahezu klaustrophobischer Manier. Dabei häuft er kaum zu identifizierende Gerätschaften zu Türmen an. Allesamt zerbrochen, künden sie von Verwüstung. Auf der Basis von Assoziationsfreude lassen sich Fragmente von Bilderrahmen, Holzstücken, kombiniert mit Keksen, Angelgerätschaften und Gliederpuppen erkennen. Diese Stellvertreter der menschlichen Protagonisten weisen auf ein amputiertes Dasein hin. Sie wirken teilbeseelt doch können sie ohne Gesicht, ohne Sinn(e) nur ein Schattendasein fristen. Der Künstler dekliniert sie durch immer neue Beziehungen. Die entindividualisierten Manichini werden verhalten lebendig dargestellt, stehen verloren beisammen, müssen von Stellagen gestützt, gefesselt oder entbunden werden. Antike Tragik wird durch die Titel beschworen: Hektor und Andromache, Kriegsopfer, die wissen, dass der Abschied kein Wiedersehen birgt. Der Maler positioniert sich in dieser Chiffre zum Kriegsgeschehen. Er verabscheut das Morden und leidet an der Entwertung aller Sinnhaftigkeit und dem gesellschaftlichen Verlust aller humanen Werte, die ihm bislang Kompass waren. Mehrsprachig, reiselustig als auch ausgesprochen belesenen sind Nationalismen seine Sache nicht.

De Chirico entwickelt eine Individualmythologie, die von nun an kennzeichnend für die Kunst der Moderne sein wird. Während er uns wohldosiert die Happen einer bildungsbürgerlichen Symbolsprache kredenzt, deutet er sie gleichzeitig individuell um und führt uns auf Fährten, die für Bilderkenntnisse zunächst wenig brauchbar scheinen. Seine wohlklingenden Bildtitel (Die Müdigkeit des Unendlichen, Metaphysische Komposition, Die Sehnsucht des Dichters, Der Lohn des Wahrsagers, Das Rätsel der Stunde) ermutigen zu freier Assoziation. In jüngsten Publikationen werden immer wieder Nietzsche, Schopenhauer und Weininger als geistige Impulsgeber genannt, doch bleiben die konkreten Schlüsse aus. Was genau kann die recht misogyne Riege also befördert haben? Das Arkadenmotiv durch Nietzsche in Turin? Melancholie und allgemeiner Weltschmerz werden von den Exegeten als ausreichende Motivation eines durchaus kraftvollen Werkes betrachtet. Seltsam, dass Allgemeinbegriffe schon ausreichen sollten eine malerische Obsession und eine motivische Zielsicherheit wie bei de Chirico zu erklären. Seine Stringenz in der Formsprache welche Arkaden, Türme, Schornsteine, kannelürten Säulen, Kanonen, Fische und Bananen zu harmonischen Bildfindungen komponiert, folgt einem absichtsvollen Muster. Sein Nuancenreichtum in einem bewusst ausgewählten Segment bei der Auswahl mythologischer Bezüge bildet immer wieder eine vergleichbare Befindlichkeit ab. Nun, kann es nicht sein, dass das was wir nicht kennen oder kennen wollen auch nicht sehen können? Ist die vielbeschworene Rätselhaftigkeit dieses Werkes nicht vielmehr sein schützenswertes Geheimnis? Wieviel Dechiffrierung verträgt ein Kunstwerk? Ich hätte da ein paar Thesen. Mehr darüber im Kurs.

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